Herbert Först„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen,
die einen beißen und stechen.
Wenn das Buch, das wir lesen,
uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt,
wozu lesen wir dann das Buch? (…)
Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Franz Kafka
Brief an Oskar Pollak vom 27. Jänner 1904

 

BIOGRAPHISCHES

  • 1948 in Ybbs an der Donau geboren
  • „dörfliche Kindheit“ in St. Martin am Ybbsfeld
  • 1958 Übersiedlung nach Neunkirchen
  • vier Jahre Hauptschule und anschließend Besuch der LehrerInnenbildungsanstalt in Wr. Neustadt
  • 1968 – 1973: Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch an der Universität Wien  (Diplomarbeiten über den Erzähler Johannes Urzidil und die Kurzgeschichten „In our time“ von Ernest Hemingway)
  • Lehrer für Deutsch und Englisch am BG/BRG Baden/Biondekgasse von 1973 – 2008
  • ab 1985 auch Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Akademie bzw. Pädagogischen Hochschule Baden für die Bereiche Deutsche Literatur, Textkunde, Kommunikationswissenschaft und Medienkunde
  • Gemeinderat der Grünen Baden von 2000 – 2015, Stadtrat von 2005 – 2007
  • 2004/05: Ausbildung zum Yogalehrer an der Devananda Yogaschule Tribuswinkel
  • Literatur-/Leseseminare seit 1988
  • Veranstaltungsformat BEGEGNUNGLiteratur seit 2012
  • Mitglied des PEN-Club Austria seit Dezember 2016

BEGEGNUNGLiteratur  –  Überlegungen zum Einstieg

„Der Blick in den Spiegel am Morgen.
Das ist für mich die stete Wiederkehr der Fragen, wer ich nun bin.
Was aus mir geworden ist. Werden wird.
Was und wer mich zu dem gemacht hat, was ich sehe.
Ist die Frage, wie viel ich ‚Ich‘ bin und wie viel auf mich eindringende Welt.“
Marlene Streeruwitz
Frankfurter Poetikvorlesungen, edition suhrkamp 1998, S. 21

„So wie es Malgründe, Fischgründe gibt, muss es Schreibgründe geben.
Weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe, fällt ja zusammen.
Weil ich herausfinden will, was ich hier soll. Auf diesem seltsamen Planeten.
Ob das einen Sinn macht, dass ich hier ging.“
Sarah Kirsch
„Kommt der Schnee im Sturm“, Prosa, DVA München 2005

LITERATUR und ICH? – Ein Bekenntnis in drei Schritten:
Meine Beziehung zur Kunst, zur Literatur
im Besonderen, hat sich mit den Jahren verändert. Ausschlaggebend für markante Akzentverschiebungen in meiner Literaturbetrachtung waren Seminare in den achtziger Jahren mit Germanisten der Universität Salzburg, allen voran mit Prof. Josef Donnenberg. Er überzeugte mich, dass in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten die Rezeptionpoetik, also die Frage nach der Wirkung eines Textes auf den Leser/die Leserin, Priorität haben muss, wenn es darum geht, Menschen nachhaltig an Literatur heranzuführen. Diese Einsicht bestimmt seither meine Begegnung mit Literatur.
(1) Heute erwarte ich mir von Literatur zunächst einmal, dass sie mich in Bewegung hält; ich habe dabei Jean-Paul Sartre im Sinn: „Dein Leben hängt davon ab, was du aus dem machst, was mit dir gemacht worden ist.“ – Etwas aus dem machen, was mit mir gemacht worden ist …? Wie viel Zeit bleibt mir für diese „Ich-Werdung“, „meine Menschwerdung“? Sind es Tage, Monate, Jahre, …? Müßig zu fragen, gehe ich doch davon aus, dass mein „Coming out“ kaum je abgeschlossen sein wird. Auf meinem „Weg der Menschwerdung“ erweist sich Literatur als ein besonderes Angebot. Karl-Markus Gauß formuliert es so: „Lesen ist Entrückung, wir geraten außer uns und gelangen gerade dadurch erst wieder ganz zu uns. Indem wir uns in den Biografien, den inneren und äußeren Konflikten fremder Menschen verlieren, werden wir uns unserer eigenen bewusst. Wer liest, führt viele Leben, probeweise, tageweise, und da uns biologisch immer nur dieses eine bleibt, das wir haben, werden wir es, durch die Lektüre bestärkt oder verunsichert, womöglich anders zu gestalten versuchen, als es uns vorgegeben wurde.“ (In: Der Standard, ALBUM, Samstag, 22. Juni 2013). Treffend auch, was Günter Eich über Gedichte sagt: „Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.“
(2) Ich erwarte mir von Literatur
aber auch, dass sie etwas Licht in das Dunkel meiner existentiellen Fragen bringt, also ein wenig Klarheit schafft, wenn ich den Leerstellen des Lebens nachgehe und sie zu füllen suche; wenn etwa die Frage nach dem WARUM sich hin und wieder meldet; und das geschieht immer noch, auch in meinem siebenten Lebensjahrzehnt. Ich bin dann dankbar, wenn ich mich in einem Gedicht, in einem Satz eines Romans, in einer Szene eines Theaterstücks finde, staunend innehalte und sagen kann: „Ja, so ist es, das Leben!“ Wenn Literatur/Kunst zu dieser Form von „Entrückung“ führt, macht sie mich frei, wenn auch nur für Augenblicke, in glücklichen Fällen mitunter für Stunden oder Tage.
(3) Ich erwarte mir von Literatur
schließlich auch jene Freude, die der Begeisterung für die Magie der Kunst – in welcher Form auch immer – innewohnt; bei der Literatur ist es die Freude an der Ästhetik der geformten Sprache, die mich die schöpferische Kraft des Menschen erahnen lässt. Diese wird mir – immer häufiger – zum entlastenden Gegenpol angesichts all der in unserer Welt tobenden Gewalt. Oft und oft bekenne ich beim Erleben von Kunst: „Das macht uns Menschen aus.“ Auf diese beglückend befreiende Einsicht folgt in der Regel die Frage: „Warum dann all die Gewalt, wenn es doch auch die Kunst mit ihrer erhebend verwandelnden Freude gibt?“ Die Antwort bleibt aus. Sie gibt auch Konrad Paul Liessmann nicht, wenn er in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2016 nüchtern und schlüssig sagt: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.“ – Wie gesagt: keine Antwort, aber dem ist dennoch nichts hinzuzufügen. – Oder doch?

Prospero:
„We are such stuff, as dreams are made on;
and our little life is rounded with a sleep.”
“Wir sind aus solchem Stoff, wie Träume sind;
und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.“
William Shakespeare: „Der Sturm“, Akt IV, Szene 1