„Nur in der Bewegung tun sich Fenster auf.“
Von der wundersamen Erleuchtung des Simplicius vom Bodensee in Wolfgang Hermanns Roman „Herr Faustini verreist“
Der Roman „Fliehende Landschaft“ und der Prosaband „Das Gesicht in der Tiefe der Straße“ sind Bücher, die neugierig machen auf mehr, weisen sie doch den Vorarlberger Wolfgang Hermann als einen Autor aus, der im Reisen als Ausdruck von Bewegung die Essenz des Lebens sieht und über die Kunst verfügt, im Augenblick Zeitloses festzuhalten.
In seinem neuesten Roman „Herr Faustini verreist“ knüpft Wolfgang Hermann vertraute Motive weiter, entwickelt aber eine überraschend neue Form des Erzählens. Der reizvolle Text schildert etwa ein halbes Jahr aus dem Leben eines Zeitgenossen, den man als Leser/-in sofort ins Herz schließt: Der scheue Single Faustini lebt im Dorf Hörbranz in Vorarlberg in inniger Wohngemeinschaft mit seinem Kater, „der ihm die Langsamkeit schenkte und die Wärme durchschnurrter Abende im Ohrensessel“. Verlässt er das Haus, erinnert er an den barocken Simplicius, wenn dieser seine ersten Schritte in die Welt wagt. Faustinis Weltbegegnung hinterlässt ebenfalls Staunen, Kopfschütteln und bisweilen auch Resignation angesichts der Vorgänge in seiner Umgebung. An einem „besonderen Tag“ erfasst ihn wie Gustav von Aschenbach ein Anfall von Reiselust; und schon ist auch ein Ziel gefunden: Seine Schwester feiert einen runden Geburtstag, er wird ihrer Einladung folgen und an den Lago Maggiore reisen, das aber „mit Leib und Seele“ und nicht bloß mit „Schuh und Koffer“. Ein wenig bange ist ihm schon, dem „Miniaturreisenden aus Leidenschaft“, denn es „konnte alles geschehen, wenn er den Radius seiner Welt verließ“. Innerhalb weniger Tage brechen drei Frauen das verschlossene und verschrobene Wesen des Helden auf und machen ihn empfänglich für Wärme, Schönheit und Eros, und ihm wird bewusst, dass bisher „sein Leben angewandter Egoismus“ gewesen ist. An den schon herbstlichen Bodensee zurückgekehrt verspürt Herr Faustini eine unbändige Sehnsucht nach dem Süden. Mit dem schwarzen Prinzen von Abidjan verlässt er per Bahn seine „kleine Welt“, um das große Meer zu erleben, das „ein Muskel war, der anzog und losließ“, das „Fülle“ und „Leere“ in einem war.
Wer nach dem letzten Satz des Romans zu dessen Anfang zurückkehrt, entdeckt verblüfft, dass Wolfgang Hermann schon im ersten Absatz das Konzept seiner Geschichte skizziert: Im Verhalten des Katers klingt all das an, was Herrn Faustinis simplizianische Reise ausmachen wird: „Die Augen des Katers blinzelten tiefgelb, als er seinen Kopf hob und in die Sonne schnupperte. (…) Sein Körper hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems, die Augen hielt er lange geschlossen, ließ ihr Gelb im Abstand vieler Atemzüge kurz aufblitzen, ehe sie wieder tief im Innern verschwanden.“ Bald darauf ist zu lesen, dass die Putzfrau Maria es ist, die Herrn Faustini lehrt, dass man „erst im Loslassen (…) für andere Wege frei werde“, und Herr Faustini beginnt an einem Tag loszulassen, von dem es heißt: „An einem Tag wie diesem stand die Zeit still, das Leben bewegte sich nicht vom Fleck, und alles schoß zu einem kleinen häßlichen Klumpen zusammen.“ Im Bus von Hörbranz nach Bregenz beschließt er, sein Leben in „eine Abfolge von klitzekleinen Abenteuern“ zu verwandeln. Spätestens an dieser Stelle hat der Held die Leserschaft auf seiner Seite, denn wer möchte das nicht in einer Zeit, in der „das Rheintal ausverkauft“, „der Bodensee gutes Geld“ und „Stilleinseln selten“ geworden sind.
Der Titel des Romans führt zwangsläufig zu Faust. Das liebevoll entheroisierende Diminutiv Faustini erlaubt es, ohne Scheu sich mit dem Helden zu identifizieren, denn das maßlose Faustische Streben zeigt sich beim scheuen Bürger aus Hörbranz sympathisch reduziert: „Immer, wenn Herr Faustini etwas Neues lernen und erfahren durfte, war er erfüllt vom Gefühl der Dankbarkeit.“ In Gegenwart seiner strahlend jungen Nichte Iris erlebt er, was Goethes Faust im Pakt von Mephisto fordert: „Während er die hellwachen Augen von Iris betrachtete (…), bat Herr Faustini im Stillen darum, daß dieser Augenblick von Dauer sein möge.“
Was macht das Lesen dieses Textes reizvoll? In erster Linie ist es der Held. Mit liebevoller Ironie zeichnet der auktoriale Erzähler eine Romanfigur, die manches kann, wonach sich viele sehnen, es aber nicht schaffen, zum Beispiel ein Leben in Muße in einer Welt, in der – so der Text – Geschwindigkeit beschleunigten Umsatz von Waren und dieser wiederum verringerten Atemraum bedeutet: „Die Minuten, die sich um Herrn Faustini drehten, erfüllten ihn mit tiefer Zufriedenheit. Wer hatte schon das Glück, sich ganz und gar der Leere hingeben zu dürfen, wie er es nun tat, ein Zeitdieb, der unentdeckt leere Zeit hortete, auf ihr saß und von ihr bis zur Zufriedenheit ernährt wurde.“
Reizvoll auch Herrn Faustinis naiv entlarvende Perspektive, aus der Schwachstellen unserer Zeit ausgeleuchtet werden; dabei gelingen Wolfgang Hermann immer wieder ausnehmend geistreiche Passagen, etwa jene, in der die Leere des modernen Kunstbetriebs demaskiert wird.
Der Roman überzeugt auch als Geflecht von Motiven, das den Text dicht werden lässt: Das Grundthema „Nur in der Bewegung tun sich Fenster auf“ spiegelt sich in den zwei Leitmotiven Gehen und Wasser in ihren vielfältigen Formen: „Aus dem Gehen wurde flußabwärts ein Schreiten, aus dem Schreiten ein Schweben, ein Gleiten und Fliegen.“
Und da ist dann noch die geschickte Einarbeitung alter literarischer Traditionen: Die Perspektive des reinen Toren verschmilzt mit dem köstlich gebrochenen Faustischen Erkenntnisdrang und dem märchenhaften Auftreten eines exotischen schwarzen Prinzen, der Herrn Faustini zu einer atemberaubenden Einsicht führt: „Die Ausdehnung der Erde ist also eine Illusion. Jeder Ort der Erde ist in jedem Augenblick gleich weit entfernt.“ Der Prinz ist es auch, der zu intensiver gedanklicher Weiterarbeit herausfordert, denn ein Schwarzafrikaner mit Erlöser-Charisma im Ländle – das lässt einiges an Interpretationen zu.
Wolfgang Hermann hat mit diesem Roman einen Text verfasst, der einen nicht niedergedrückt, sondern zuversichtlich schmunzelnd zurücklässt, denn ein Aufbruch zum großen Meer – das muss doch möglich sein! Und für ein köstliches Leseerlebnis mit Tiefgang heißt es allemal dankbar sein in einer Zeit, die reich ist an dunklen Texten.
Herbert Först
Textprobe:
… er setzte seine Suche allein fort, irgendwo mußten die Bilder ja sein. Dort ganz hinten, ganz in der Ecke des Raums lehnte eine seltsame Röhre, wohl aus Glas, dort standen Leute in gebührendem Abstand herum, jemand zeigte, erklärte. Herr Faustini näherte sich. Die Röhre mußte die Kunst sein, Herr Faustini sah es an den Mienen, mit denen die Leute drumherumstanden und redeten. An der Röhre erkannte Herr Faustini eine Leuchtschrift, THE END stand dort geschrieben, der Schriftzug blinkte einmal auf, dann erlosch er, ein Wackelkontakt vielleicht, Herr Faustini sah sich um, doch keiner schien seinen Gedanken zu teilen, da war es wieder: THE END. Lippen wurden nach vorn gezogen, ein Kopfnicken da, ein Kopfschräghalten hier. Das also war die Kunst, Herr Faustini besah sich die Röhre von allen Seiten. THE END erschien und verschwand auf der Röhre. Bestimmt steckte ein tieferer Sinn hinter dem Erscheinen und Verschwinden der Worte THE END, den Herr Faustini nicht begriff. In den Gesichtern der Leute entdeckte er eine Leichtigkeit, ja Entspanntheit, wie er fand. Konnte es sein, daß alle um das Geheimnis der Röhre mit dem Wort THE END wußten? Oder kam ihre Entspanntheit vielleicht daher, daß sie den tieferen Sinn hinter den Worten THE END gar nicht wissen wollten? Als Herr Faustini diesen Gedanken dachte, spürte er Erleichterung. Ja, das mußte es wohl sein. Sie wollten es gar nicht wissen. Sie fühlten sich wohl im Nichtwissen. Denn das Bescheidwissen ist ja eine traurige Sache. Das hat Herr Faustini immer wieder lernen müssen. Kaum hast du das Warum, das Wozu, das Woher verstanden, überkommt dich eine lähmende Traurigkeit. Warum war dem so? Kein Warum mehr. Es war einfach so, glaub es, und damit basta. (S. 56ff.)
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