35 Jahre Arbeit als Lehrer bedeuten eine Fülle an Erfahrungen und Beobachtungen. Verknüpfe ich diese mit meinen Visionen von einer idealen Schule, ergeben sich einige Überlegungen, die ich auf diesem Wege gerne weitergebe. Ich betrachte sie als Basis für den Lehrberuf, wenn dieser über viele Jahre Freude machen und erfüllend sein soll. Mir ist klar, dass eine weitgehende Umsetzung meiner Überlegungen eine andere räumliche Infrastruktur einer Schule sowie Veränderungen in pädagogischen und organisatorischen Abläufen nach sich ziehen würde.
1) Ich gehe davon aus, dass dem Menschen eine ihm unbewusste Sehnsucht nach dem Schönem eigen ist. Junge Menschen verbringen viel Lebenszeit in der Schule. Sie haben ein Recht darauf, in Räumen zu arbeiten, die nicht nur in ihrer Funktion taugen, sondern auch so gestaltet sind, dass das Auge hin und wieder an etwas „hängen“ bleibt, das eine „ästhetische Berührung“ auslöst, den Geist anregt, der Seele gut tut. Klare Flächen, die den Geist beruhigen, und vereinzelt Objekte oder Bilder, die einfach schön sind und den Geist anregen – das schafft emotionale Ausgeglichenheit, geistige Ruhe und Konzentration. Die Mystikerin Simone Weil meint diese Kraft des Schönen, wenn sie sagt: „Das Schöne ist etwas, bei dem die Aufmerksamkeit verweilen kann.“
2) Wir brauchen ganzheitliche Prozesse in den Klassenräumen. In den meisten Schulen wird bis zu sechs Stunden und mehr gesessen und gedacht. Das beeinträchtigt die Gesundheit, ist ineffizient und geht am Wesen des Menschen vorbei. Denn der ist vielschichtig und möchte in vielen Schichten angesprochen werden: Körpererfahrungen in Form von Tanz und anderer rhythmischer Bewegung, verschiedenste Sinneswahrnehmungen, ausgewogene Arbeit mit beiden Gehirnhälften, emotionale Erfahrungen und musische Impulse, – all das sollte der Unterricht bieten. Ganzheitlich geforderte SchülerInnen erfahren ihren Körper positiv, spüren, dass dieser in tiefer Wechselwirkung mit dem Geist steht, und sind in höherem Maße aufmerksam, belastbar, kreativ und leistungsbereit.
3) Eine Fülle von Problemen lässt sich vermeiden, wenn gegenseitige Wertschätzung die Arbeit in den Klassenzimmern und die Begegnungen in den Pausenräumen prägt. Den ersten Schritt auf diesem gemeinsamen Weg der Wertschätzung geht natürlich die Lehrkraft. Sie schlägt sozusagen den Ton der Kommunikation mit den SchülerInnen an und kann darauf vertrauen, dass angezeigte und gelebte Wertschätzung von den jungen Menschen in der Regel erwidert wird. Sobald LehrerInnen und SchülerInnen erkannt haben, dass jede Nachricht eine Beziehungsbotschaft enthält, also Beziehung gestaltet, wird die Kommunikation zum wirkungsvollsten Instrument für die Schaffung eines konstruktiven, stabilen und belastbaren Arbeitsklimas.
4) Soll der Lehrberuf über viele Jahre spannend bleiben und Erfüllung bringen, ist es unabdingbar, sich stetig zu entwickeln, also zu verändern. Der erste Schritt dafür ist die regelmäßige Selbstreflexion nach einer Unterrichtsstunde, einem Schultag, einer Woche. Dabei ist unter anderem immer die Frage zu stellen, ob die gestalteten 50 Minuten Unterricht für die jungen Menschen ein Gewinn waren; schließlich ist man für 50 Minuten Lebenszeit der SchülerInnen verantwortlich. Notwendig für diese Grundhaltung ständiger Selbstevaluierung ist die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, die in kaum einem anderen Beruf eine so unmittelbare Rolle spielt. In schwierigen Situationen, in Konflikten, nach unbefriedigenden Unterrichtsstunden oder –phasen bedarf es der Bereitschaft, die Lage auch aus der Sicht der SchülerInnen zu prüfen. Ohne diese Fähigkeit ist ein gemeinsames Wachsen mit einer Klassengemeinschaft nicht möglich.
5) Aus den eben skizzierten vier Überlegungen ist leicht zu schließen, dass der Lehrberuf ein ungemein fordernder ist, dass es nicht damit getan ist, „eine Stunde mehr oder weniger in der Klasse zu stehen“. Während fünf bis sechs Unterrichtsstunden zu hilfreicher, aufbauender Kommunikation bereit zu sein, Fertigkeiten und Wissen ansprechend zu vermitteln und den jungen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie mit einem belastbaren, berechenbaren Erwachsenen arbeiten, der es in jeder Phase des Unterrichts gut mit ihnen meint – das verlangt viel Kraft, Anteilnahme und Geduld. Daraus folgt, dass LehrerInnen sich unbedingt eine Energiequelle erschließen müssen, wollen sie verhindern, dass sie nach wenigen Jahren austrocknen, verdursten und fortan ausgebrannt nur noch dazu fähig sind, über die Runden kommen zu wollen. Wenn sie aber aus einer erschlossenen Energiequelle laufend Kraft, Zuversicht, Ausgewogenheit und Gelassenheit schöpfen, stehen die Chancen gut, im Lehrberuf Sinn und Erfüllung zu finden. Mit derart geerdeten LehrerInnen erleben junge Menschen, dass es ausschließlich um ihre Entfaltung geht und dass sie mit einem Erwachsenen arbeiten, der stabil genug ist, um sich in kritischen Situationen an ihn auch „anlehnen“ zu können.
Erfahrungen dieser Art wünsche ich der „Schulgemeinschaft Biondekgasse“, mit der ich mich noch immer verbunden fühle, ist sie doch 35 Jahre lang für mich ein Lebensmittelpunkt gewesen, auf den ich wie auf eine eingebrachte Ernte zufrieden zurückblicke.
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