Stephanie Mold: Ich bin wie Zucker

„Ich warte immer auf das perfekte Lied“

„Ich bin wie Zucker“ – Stephanie Molds literarische Antwort

auf ihre Sturm und Drang Zeit in Istanbul

 

Nicht selten schöpfen erste Romane aus dem Vollen der Erlebniswelt ihrer AutorInnen. Beispiele gibt es genug. Goethes „Werther“ hat mit Stephanie Molds Erstling nicht nur diese Nähe zur autobiographischen Studie gemeinsam, sondern auch das Erzählen in der ersten Person und die melancholische Grundstimmung, die hin und wieder zum Weltschmerz wird. Das ist aber auch schon alles an Affinitäten zu Goethes Sturm und Drang Roman. Stephanie Molds Ich-Erzählerin strotzt letztlich vor Lebenskraft, die sie alle Attacken von Depressionen überwinden lässt und in den letzten Zeilen in einen erfrischend zuversichtlichen Dialog mit dem Leben treten lässt.

„Ich will glücklich werden, Leben, hörst du? Nicht zufrieden, sondern glücklich! Und, Leben, ich bin konsequent im Träume wahr werden Lassen, das habe ich dir gestern bewiesen.

Jaja, flüstert mir mein Leben zu und gähnt.“ (S. 228)

Erzählt werden jene zwei Jahre, die die Kunststudentin Stephanie Mold – es ist dies auch der Name der Ich-Erzählerin – in Istanbul verbringt. Nach enttäuschenden vier Erasmus-Monaten, jenem „ersten Anlauf“, bei dem die Stadt sie „links liegen gelassen hat“, kehrt sie mit einer Art Kampfansage an die 15 Millionenstadt zurück: „Aber so leicht mache ich es Istanbul nicht.“ (S. 7) Zu Beginn ihrer zweiten Begegnung entwickelt sie ein ausgefallenes künstlerisches Projekt: In der Absicht „Istanbul zu durchleuchten“ (S. 10) sollen Modelle von Wohnungen und ihren männlichen Bewohnern entstehen: „Lauter Wohnungen mit Plastilintypen darin“ (S. 24). – Was für ein Programm!

Der Plan ist nicht ungefährlich, muss sie doch für jedes Objekt Wohnung und Mann zunächst einmal kennen lernen. Ihr auffallend blondes Haar verschafft ihr beinahe mühelos die Aufmerksamkeit zahlreicher Männer und Zugang zu deren Wohnungen. So tragen dann auch die 18 Kapitel des Romans die Namen von Männern. Im Verlauf der zwei Jahre entstehen nicht nur die Männerwelt-Modelle, sondern auch Bilder.

Es liegt am Wesen des Plots, dass die vielen Männerfiguren unterschiedlich präsent sind: Einige, etwa Efe und Nicola, „begleiten“ die Ich-Erzählerin über weite Strecken, andere tauchen auf und verschwinden wieder im Istanbuler Nachtleben; der eine oder andere wird zum fernen Wunschtraum. Das gibt der Autorin die Möglichkeit, die Vielgestaltigkeit heterosexueller Begegnungen mit all ihren Momenten des Glücks, des Schmerzes und der Einsamkeit zu skizzieren.

Zielstrebig läuft die äußere Handlung auf das begehrte Ziel einer Ausstellung in Istanbul zu. Mit dem Tag der Abreise endet der Roman. Eingeschoben sind ein Weihnachtsbesuch zuhause und ein längerer Aufenthalt in Linz, der reich an schwierigen Erfahrungen ist: Clemens, ein Mitglied ihrer Wohngemeinschaft, begeht Selbstmord und die Atmosphäre in der oberösterreichischen Landeshauptstadt bleibt abweisend:

„Ich trinke nicht mehr, das Bier spricht nicht mehr mit mir. Nichts spricht mich an, Dinge und Menschen schweigen, und meine Antwort darauf ist ebenfalls Schweigen.“ (S. 70)

Gegen den Hintergrund des Kunstprojektberichts wird die Geschichte einer inneren Entwicklung erzählt, die durchaus die Bezeichnung „Reifung“ verträgt.

„Warum, lieber Gott, hat mich Oma mit Schmalzbroten vollgestopft? Warum war Oma keine Buddhistin?“ (S. 38)

Das fragt sich die 26jährige Kunststudentin, die sich bei ihrem Eintreffen in Istanbul nicht wohlfühlt in ihrem Körper: Sie erlebt sich zu dick, leidet an ihrer unreinen Haut. So beginnt sie, regelmäßig zu trainieren, und stellt bald fest: „Ich habe sogar begonnen, mich ein bisschen zu mögen.“ (S. 27) Nach einer langen Phase der Abstinenz überlegt sie auch „ernsthaft, Sex zu haben“ (S. 41), muss sich aber eingestehen, dass sie „vielleicht doch eine alte Romantikerin“ ist, die die „Nutze-den-Augenblick-Taktik“ (S. 42) erbärmlich findet. Dergestalt hin und her gerissen und immer wieder mit Selbstmitleid spielend, dem sie mitunter auch mit Alkohol begegnet, macht sie ihre vielfältigen Erfahrungen mit Männern und gerät manchmal in Situationen, die einen ausrufen lassen: „Tu das nicht, Steffi!“ Sorge und Mitgefühl evoziert auch die Suche nach einer passenden Unterkunft in der Stadt am Bosporus. Zu diesem Zweck entwirft sie einen Flyer, der den Titel des Romans liefert:

„Und wie kann ich sagen, dass ich ganz lieb und nett bin? Schließlich schreibe ich: ‚Seker gibiyim – Ich bin wie Zucker.’ In Wirklichkeit bin ich wohl mehr wie eine Zitrone.“ (S. 76)

Zwischen Zucker und Zitrone schwankend sind auch die Gefühle gegenüber der Ich-Erzählerin, die so beim Lesen entstehen: Bewunderung ob des kritischen Blicks auf sich selbst und eine ungerechte Welt, Befremdung manchmal dann, wenn Steffis Gehen zu einem Taumeln wird. Diese Spannung lässt das Lesen zu einem Wechselbad werden, das eine Identifikation mit der Heldin schwierig macht.

Aus mehreren Gründen lohnt es sich diesen Roman zu lesen. Da ist zunächst einmal der schriftstellerische Ansatz, eigene Erfahrungen offen und authentisch aufs Papier zu bringen. Stephanie Mold will – so hat es den Anschein – keine Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie mit der Ich-Erzählerin identisch ist. Und das macht den Text ehrlich und echt. Er lässt es zu, in der erzählten Geschichte dem realen Leben beinahe distanzlos nahe zu kommen, und dabei ist die Autorin erstaunlich schonungslos sich selbst gegenüber. Diese Authentizität erreicht die mehrfach begabte Künstlerin mit einer originell ungekünstelten Erzählhaltung – sie ist fast irritierend reduziert – und einer Sprache, die kraftvoll aus dem Idiom der jungen Menschen von heute schöpft. In ihrer Einfachheit ergänzen Erzählhaltung und Sprache einander zu einem stimmigen Ton. In ihm spiegelt sich die junge Generation von heute: ihr Lebensgefühl, ihre Gewohnheiten, Nöte und Hoffnungen. Ihr Anspruch auf radikale Freiheit lässt sie immer wieder an eine Grenze stoßen, und sei es auch nur der Wunsch, mit einem makellosen Körper einem der vielen Diktate unserer Zeit zu entsprechen. Nicht zuletzt imponiert das Buch, weil es von einer jungen Frau erzählt, die trotz eines extrem schwankenden Selbstwertgefühls es schafft, an sich zu glauben, und daran festhält, sich zu finden:

„Ich bin das blonde Etwas, das sein Freund aufgerissen hat, mehr nicht, ich füge mich in meine Rolle. Ich habe meinen inneren Schatz, meinen inneren Ozean an Geschichten und Erfolgen, ich muss das mit niemandem teilen, keinen überzeugen. Es fühlt sich gut an.“ (S. 220)

In dieser Stimmung klingt das Buch aus; die frühe Aussage, dass sie „immer auf das perfekte Lied wartet“, lässt noch viele Engstellen für die Ich-Erzählerin erwarten. Für diese emotionale Balance gebührt der Autorin hohe Anerkennung.

Herbert Först

 

Anmerkung: Die erwähnten Männerwelt-Modelle und Bilder Stephanie Molds sind auf www.edition-a.at zu sehen.

 

Textprobe:

Umuts Wohnung ist tatsächlich sauber, er hat ein Arbeitszimmer, eine große Terrasse mit Bosporusblick und ein Schlafzimmer. Nichts weckt in mir das Bedürfnis, ein Foto zu machen.

Er hat einen weißen Apple-Laptop und spielt José Gonzales. Eigentlich perfekt. Hätte ich nicht Efe getroffen. Ich würde viel lieber in Efes Drecksbude schlafen. Wir schlafen umarmt ein, kein Sex, er akzeptiert.

„Darf ich deine Beine sehen?“, fragt mich Umut am Morgen.

Warum willst du denn ausgerechnet meine Beine sehen? Die sind mit Abstand der hässlichste Teil meines Körpers. Ein bisschen Cellulitis an den Oberschenkeln, meine Füße sind eher riesig und ziemlich platt. Ich kann nur Turnschuhe anziehen, und ich achte immer darauf, dass sie meine Füße optisch verkleinern. Ach, das Tageslicht ist mein Feind, der Morgen tötet die Illusion, da wird die Tarnung entlarvt. Im Schutz des Discolichtes kann ich manchmal täuschen, da betone ich meinen Mund, gutes Parfum, die blonden Haare, ja, ich bin im Dunkeln schön.

„Warum willst du meine Beine sehen?“, frage ich gereizt.

„Mir gefallen Beine.“

Ich überlege: Okay, deine Schuld, du hast mich aufgerissen, du bist mir auf den Leim gegangen, jetzt musst du mit den Konsequenzen leben, mein Junge.

Ich zeige ihm meine Beine. „Deine Beine sind okay“, meint er, mehr höflich als ehrlich.

Er steht auf, er will duschen. Er fragt, ob ich mit ihm duschen will. Hast du denn noch nicht genug gesehen? Wenn du so kreativ bist, könntest du dir vorstellen, wie ich als Ganzes aussehe. Also selber schuld, Bubi: Okay, ich komme. (S. 122ff.)

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