Baden und der „psychologische Tiefenforscher“ Arthur Schnitzler

Baden und der „psychologische Tiefenforscher“ Arthur Schnitzler
oder
Was aus Baden zu sagen bleibt

 

„So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“ (Aus: „Die Wiener Moderne“, Verlag Reclam, S. 652)
Mit diesem Befund – formuliert in einem Geburtstagsbrief an Arthur Schnitzler – charakterisiert Sigmund Freud seinen Zeitgenossen und trifft damit indirekt ins Zentrum der Novelle „Spiel im Morgengrauen“, in der die „Polarität von Lieben und Sterben“ meisterhaft und beklemmend inszeniert wird. Diese thematische Tiefe erklärt, warum sich Schülerinnen und Schüler mit eben dieser Erzählung für die Kunst Arthur Schnitzlers gewinnen lassen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil – zusätzlich zur schonungslosen Expedition in die Tiefen der Seele – junge Menschen an der packenden Handlung erleben können, dass heute wie damals „kulturell-konventionelle Sicherheiten“ brüchig sind. In Baden vielleicht auch deshalb, weil das Ambiente dieser bürgerlichen Kleinstadt hautnah aus den Seiten des Textes hervortritt und der Weg des „Helden“ Willi Kasda zu Fuß und ohne viel Aufwand abgegangen werden kann.

Immerhin liefen die Pferde vortrefflich, und in fünf Minuten war man beim Bahnhof. In dem gleichen Augenblick aber setzte sich auch oben in der Station der Zug, der eine Minute früher eingefahren war, in Bewegung. Willi war aus dem Wagen gesprungen, blickte den erleuchteten Waggons nach, wie sie sich langsam und schwer über den Viadukt fortwälzten, hörte den Pfiff der Lokomotive in der Nachtluft verwehen, schüttelte den Kopf und wußte selbst nicht, ob er ärgerlich oder froh war. Der Kutscher saß gleichgültig auf dem Bock und streichelte das eine Roß mit dem Peitschenstiel. „Da kann man nix machen“, sagte Willi endlich. Und zum Kutscher: “Also fahren wir zurück zum Café Schopf.“ (Aus: „Spiel im Morgengrauen“, Verlag Reclam, S. 31)

Dieses Café Schopf war zu Fuß in knapp zehn Minuten, das an anderer Stelle erwähnte Restaurant Stadt Wien in knapp fünf Minuten zu erreichen. Beide Fußwege führten durch den kleinen Park vor dem Bahnhof. – Das alles und die unübertreffliche Kunst des Andeutens waren es, warum ich als Lehrer immer wieder zu dieser Novelle griff und mich entschloss, sie zum Ausgangspunkt für das Kunstprojekt „Arthur!“ zu machen.
Im Oktober 2011 wurden Studierenden an der Abteilung Transmediale Kunst Textstellen aus „Spiel im Morgengrauen“, erläuternde Informationen zu dieser Novelle und zur Beziehung Arthur Schnitzlers zu Baden vorgelegt. Der Impuls für die Phase der Inspiration war gegeben. Die erste Präsentation von Arbeiten im Dezember bestätigte einmal mehr die Vielschichtigkeit und Zeitlosigkeit großer Kunst. Was für Gedankengänge hatte dieser Text in den jungen Menschen ausgelöst! Der Bogen ihrer Ideen spannte sich von der Mechanisierung sexueller Beziehungen über die Umsetzung des Textes in einen Raster von Zahlen zum Mythos von Kairos, dem antiken Gott des Augenblicks, den es am Schopf zu packen gilt. Mit dem „Schuldentransporter“ führte eine Arbeit von Schnitzlers Glücksspielnovelle sogar in die Schuldenproblematik der Europäischen Union.
Die ursprüngliche Idee für das Projekt hatte sich bestätigt: Ein fast 100 Jahre alter literarischer Text hatte junge Menschen unserer Zeit, die ähnlich dem Leutnant in der Geschichte die Brüchigkeit einer als sicher erhofften Existenz erleben, in Bewegung gesetzt und zum Dialog herausgefordert. Aktuell, kritisch, und inspirativ reagierten sie mit ihren Sound-Installationen, Objekten, Projektionen und Performances auf verschiedenste Aspekte der Novelle und verknüpften diese mit dem Heute.
Das alles wäre schon genug gewesen und hätte Arthur Schnitzler mit Genugtuung erfüllt. Hinzu kommt aber noch ein unbezahlbarer Mehrwert: An einem Ort, den die Hektik des täglichen Berufsverkehrs bestimmt, luden sechs Wochen lang Kunstobjekte zum Innehalten und Nachdenken ein und erinnerten daran, dass auch Baden, diese Stadt der Villen, Bäder und Parks, des Theaters und Glücksspiels, für Arthur Schnitzler ein markanter Ort der Inspiration gewesen ist, wo der „psychologische Tiefenforscher“ Stoffe für seine Kunst aufspürte.
Mit „Arthur!“ wurde Neuland beschritten: In Verbindung mit einem literarischen Text wurde der öffentliche Raum einer Stadt – ihr Bahnhof und der angrenzende Park – zum Anstoß für künstlerisches Gestalten. Diesem waren – abgesehen vom beschränkten finanziellen Rahmen – keine Grenzen gesetzt. Wahrscheinlich war es die radikale Offenheit dieses Prozesses, die den Reiz des Projekts ausgemacht hat.
„Arthur!“ hinterlässt Spuren. Tief war die Freude bei Dr. Michael Schnitzler, dem Enkelsohn des Autors, angesichts der vielgestaltigen Würdigung seines Großvaters in Baden: Ein Kunstprojekt, „Spiel im Morgengrauen“ als szenische Lesung und Film, Stadtführungen „Mit Schnitzler durch Baden“ – all das fügte sich zusammen zu einem mehrwöchigen Fest, an das bleibend der neue Name des Parks vor dem Bahnhof erinnern wird: Arthur Schnitzler Park.
Ein Fest dieser Art gelingt in der Zusammenarbeit vieler. Spannend erlebt habe ich das Zusammenspiel von Universität und Stadt, im Besonderen die Arbeit jener Jury, die die zehn präsentierten Projekte ausgewählt hat. Ihr gehörten die stimmberechtigten Mitglieder Brigitte Kowanz, Peter Kozek, Ferdinand Schmatz, Katharina Blaas-Pratscher, Friedrich Biedermann, Tina Kosak und Cornelia König sowie die beratenden Mitglieder Helga Krismer-Huber, Hans Hornyik, Herbert Först, Elisabeth Wildling und Wolfgang Obermair an. Erfreut hat mich sehr, dass es gelungen ist, Sponsoren von der Sinnhaftigkeit der Initiative zu überzeugen und die Event-Agentur Vision 05 als Mitveranstalter zu gewinnen. Ihnen allen sei gedankt.
Dass es in einer Zeit knapper Budgets Geld für ein Kunstprojekt dieser Art gibt, ist ermutigend, lädt ein, diesen Weg weiterzugehen. Und wie? „Arthur!“ war der Auftakt eines Projekts, das auf drei Jahre ausgelegt ist. Seine Finanzierung ist gesichert; offen bleibt der Prozess. Die Jahre 2013 und 2014 werden hoffentlich ähnlich spannende Ergebnisse zeitigen wie „Arthur!“.

Herbert Först

 

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